Es gibt keine Antibiotika

Es gibt keine Antibiotika. Das gilt zumindest fuer den Wortsinn, in dem wir das Wort verwenden, und fast die ganze Zeit.

Genauer: auf lange Sicht werden sich die Bakterien, Bazillen und wer sie auch alle sind schneller an Stoffe anpassen koennen, als es der Mensch kann. Ihre Generationszyklen sind 10^5 mal schneller als unsere. Einen Stoff, den wir ueberleben, werden die auch ueberleben. 10000 mal schneller, und das permanent, und dann auch noch in 10-hoch-wieviel mal Individuen mehr – da muessen Kultur, Zivilisation, Intelligenz und unsere geschlechtliche Vermehrung dauerhaft und jederzeit ganz schoen auf Zack bleiben. Eine Zeit lang (Jahre? Jahrzente? Hundert Jahre?) wirkt ein Antibiotikum, die ganze andere unendliche (naja) Zeit vorher und nachher nicht.

Zur Abrundung ein paar willkuerliche Querverweise: Anteil der multiresistenten Staphylokokken in Deutschland auf 25% bis 50% (regional) gestiegen [Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Staphylococcus_aureus]. Gleichzeitig ist der Einsatz fuer neue Antibiotika und damit auch der Output als foerderungsbeduerftig erkannt:
„Conclusions
• There is a gap between the burden of infections due to multidrug-resistant bacteria and the development of new antibiotics to tackle the problem…“ [The Bacterial Challenge: Time To React, S. 24].

Dass Keime ein inniges Verhaeltnis zur menschlichen Zivilisation, Kultur und sogar Moral haben, ist eine Binsenweisheit. Siehe zum Beispiel religioese und gesellschaftliche Hygiene-Gebote (Schweinefleisch: Trichinen; Ess-Staebchenspitzen auf den Boden/nach unten bringt Unglueck…). Am entfernten Ende liegen dann statistische Ueberlegungen, die alles moegliche (menschliche Eigenschaften und Werdegaenge und der gesellschaftliche Umgang damit) auf Krankheitserreger zurueckfuehren, etwa Gregory Cochran [Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Gregory_Cochran] mit seiner „New Germ Theory“ [z.B. http://www.theatlantic.com/past/docs/issues/99feb/germs.htm]. Der Punkt, den ich in in diesem Abschnitt machen will: vieles ist letztendlich im menschlichen Tun, um Krankheitserreger abzuwehren.
Jungfraeulichkeit? Gutes Mittel gegen Papillomviren und Gebaermutterhalskrebs! Haben analog sexualmoralische Gebote vielleicht mit Prostatakrebs zu tun? Etc. etc.
Wenn eine Infektion mit Erregern endgueltig ist, sobald sie erfolgt ist, muss eine ganz andere Klasse von Verhaltensregeln greifen als simples Haendewaschen, koennte oder sollte mal. Dann gibt es Tabus, Scheu, Abscheu, Ausgrenzung, unueberwindlichen Ekel. Und solches Zeug.

Wenn es also keine langfristig betrachtet wirksamen Antibiotika gibt, dann kommt nach Jahrzehnten der Freiheit wieder eine Zeit ziemlich altmodischer Dinge. Der Fokus wird mehr dahin gehen, den Koerper (bzw. den Menschen) zu kraeftigen, als die Symptome einer aktuellen Krankheut moeglichst schnell wegzukriegen. Also z.B. vielleicht weniger Vertrauen in Impfungen gegen statische Krankheiten, dafuer mehr Ansammeln von Resistenzen gegen den mutierenden Gegner. Vielleicht kommen sogar wieder Schlaf, Hygieneregeln (weisse Schuerzen und Kopftuecher!), Obst und zum Beispiel Spaziergaenge oder regelmaessige stressmindernde, staerkende Individual- oder Gruppenrituale in Mode. Und eine interne Zone (Familie) samt Firewall (Abstand, Sitten) gegen Viren (samt Demilitarized Zone, vulgo gute Stube)?

So, wie die Grossmaulkuehler bei Autos um 2005 schick waren und nun wieder aus der Mode kommen; so, wie sich eine Kriegs- und Nachkriegsgeneration erst ab vielleicht 1980 daran gewoehnt hat, dass alles im Ueberfluss da ist, und jetzt wird doch irgendwann das Oel teurer; so wie nach Jahrzehnten der so notwendig billigen Atomenergie sich nun die notwendige Sicherheit doch wieder meldet; genauso werden wir nach dem ersten Abgrasen der verfuegbaren Stoffgruppen bei den Medikamenten die Machbarkeit und Masse wieder gegen angepasstes Verhalten und makroskopisch bewaehrte Faustregeln eintauschen.

PS: Widerrufung
Ok, ich beuge mich den Fakten. Um gegebenenfalls mit einer Blutvergiftung zwecks Infektion fertig zu werden, nehme ich fuer mich und will ich fuer meine Familie Antibiotika. Wenn ich einen Katarrh weder vermeiden noch in angemessener Zeit beenden oder lindern konnte mit Bordmitteln (die zusammen in den letzten Jahren immer zum Ziel fuehrten), dann will ich auch etwas anderes. Aber da sind Antibiotika eher in Reih und Glied mit Eukalyptusoel, Salzloesung, Salbei oder gruenem Tee. Antibiotika sind nicht in Wirklichkeit die jederzeit bereiten Totschlagwaffen (=Antibiotika), sondern ordnen sich in das archaische menschliche Arsenal ein, das mit Augenmerk, Wissen und Mass eingesetzt werden muss. Und auf die Dauer und im Grossen wird der Nutzen und der Einsatz von A. in diesem Sinn wieder bescheidener, normaler werden. Aber ich widerrufe: natuerlich gibt es Antibiotika.

2011/06/27 – Nachtrag: Zeit online schrieb mitte 2010 ueber das Ende der Antibiotika.

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