Rettung fuer Bildung, Krankenversicherung und Kultur in einem Aufwasch

Die Grippewelle ist durch unsere Familie durchgefahren. Mein Kopf ist leer und glasklar nach neun Naechten mit meistens recht hohem Fieber in mir selbst oder hohem Fieber in jemandem wenige Zentimeter oder Meter neben mir. Mein leerer Bauch ist noch ein bisschen flau. Es wird Zeit, die aktuellen Gedanken festzuhalten. Es waere schade, unser Bildungssystem, die Krankenversicherungen und ganz allgemein Kultur, Sitten und Respekt vor dem Alter vor die Hunde gehen zu lassen, wo doch eine einfache oeffentliche Umentscheidung die Basis der Gesellschaft entscheidend staerken koennte. Echt!
Ich wiederhols gern: PISA, Zusatzbeitrag, renitente Jugend, Generationenfrieden auf einen Streich.

Wer mir ein entsprechendes Stichwort sagt und nicht innerhalb einer Minute auf den Baeumen ist, bekommt einen Instant-Vortrag von mir. Da kann die Person dann gar nichts dafuer. Ob das Stichwort zu den wirksamen gehoert, kann man erst wissen, wenn man es ausprobiert hat. Oft muss ich, ausgehend vom Stichwort, ein bisschen ausholen.

Also, zurueck zur Grippe: der Kleine ist seit wenigen Tagen gesund, der Grosse war gestern noch knapp unter vierzig und ist heute fieberfrei. Beide sitzen unten, basteln miteinander. Sie singen gerade miteinander. Brigitte darf schlafen (ich glaube, sie wird mir auch krank!) und ich habe mitten am Tag Ruhe, sie hoeren mich klappern, aber ich interessiere sie gar nicht. Sie sind zufrieden, einig, selbst-genuegend und strahlen vor Seelenruhe.

Das ist der Ausgangspunkt, das ist der Newtonsche Apfel, an dem wir Innenpolitik und kuenftigen Umgang mit der Demografie aufhaengen koennen. Denn, wie auch niemand dem Apfel eingeimpft hat, in welche Richtung er zu fallen hat, ist es auch nicht selbstverstaendlich fuer unsere beiden, miteinander zu singen. Oder etwas zu tun. Oder sich nicht die Koepfe einzuschlagen. Oder meine Frau schlafen zu lassen. Oder nicht alles zu machen, dass ich moeglichst schnell unten bei ihnen sei um zu wuerdigen, wer wen wie schlimm verletzt habe. Oh nein, das war nicht a priori klar, dass sie sich jetzt gut benehmen wuerden.

Um dann auch gleich zum Thema zu kommen, hole ich etwas aus.

Ohrenschmerzen

Diesen Winter bekam unser grosser Moritz eines Tages Ohrenweh, kurz bevor wir daheim ankamen. Daheim hatte er schon richtig starke Ohrenschmerzen, solche Schmerzen, die Panik machen koennen.
Moritz kann ein ziemlich undankbarer, haesslicher Patient sein. Und mit seinen acht Jahren ist er solche Schmerzen noch nicht gewohnt, groessere Krankheiten hatte er noch nie. Daheim schossen wir sofort aus allen Rohren: Nasenspuelung mit Salzwasser, heisser Gesichtsdampf, eine Portion entzuendungshemmendes Kinder-Ibu…, heisser Tee, Zwiebelwickel ans Ohr und aufs Sofa legen. Moritz schimpfte und weinte: der bloede Zwiebelwickel hilft ja gar nicht, obwohl er schon fuenf Minuten am Ohr ist!

Das war einer dieser entscheidenden Momente. Wuerden die Schmerzen weitergehen und schlimmer werden? Wuerde ich nach Stunden das Kind abends noch in eine Klinik fahren muessen? Wird das Innenohr vereitern und geloechert werden oder hoert das einfach jetzt auf? Muss ich mich hier schimpfen lassen oder habe ich recht? Welche Autoritaet habe ich eigentlich, die Kinder zu fuehren – Nasenspuelung, Gesichtsdampf, heisser Zwiebelwickel sind unangenehm. Wir haben sie an den kleinen Krankheiten mit viel Energie ueber die Jahre geuebt.

In diesem entscheidenden Moment hatte ich einen Helfer: der Schmerz, der Moritz quaelte, war so stark, dass Moritz mit Beinen und Fuessen dagegen arbeitete. Als er mir sagte, dass der bloede Baumwoll-Packen mit dampfend warmen Zwiebelstuecken nichts hilft, war das Zucken seiner Beine schon viel weniger geworden. Ich musste gar nichts mehr tun. Ich bat ihn nur, mir den unnuetzen Zwiebelwickel von seinem Ohr zu geben. Den unnuetzen Zwiebelwickel behielt er aber lieber am Ohr, der entscheidende Moment war vorueber, und der warme Dampf am Ohr tat gut.
Der Schmerz ging innerhalb von zwanzig Minuten dann komplett weg und kam auch nicht mehr. Ich fuehlte mich gluecklich, als Sieger ueber die Naturgewalten und dabei demuetig. Und Moritz war geloest, cool, stolz aufs Ueberstandene und auch dankbar. Raffael war nach der Beunruhigung um seinen Bruder sicher beeindruckt, wie wir das gemeinsam gemeistert hatten.

Antithese

Ok, die Lektion ist klar: die Brut braucht mehr Realitaet. Nur wenn der Schmerz nachlaesst, dann sind sie dankbar. Die sollen aufs Feld, die vom Kartoffelsammeln blutigen Haende desinfizieren wir mit Salz und dann werden die Kinder klar im Kopf. Dann gehts auch mit der Leistungsbereitschaft aufwaerts. Frische Luft ist gesund.

Synthese

Es geht um viel mehr.

Wissenschaft und Forschung lernen die Welt immer noch kennen. Kinderkrankheiten haben, wie alles Reale, trotz aller Erkenntnisse sicher noch viele, viele weitere wissenswerte Eigenschaften. Nicht nur konkret fuers Individuum (Allergien, irgendjemand?), sondern auch gesellschaftlich.

Kinderkrankheiten sind im Leben eines Kindes unter den groessten, beeindruckendsten Erlebnissen. Sie sind nicht suess und nicht rosa wie vielleicht die beeindruckenden Erlebnisse, die Eltern fuer Kinder arrangieren.

Kinder erleben waehrend Kinderkrankheiten Autoritaeten: Eltern z.B., evtl. einen Hausarzt. Sie lernen zum einen, Autoritaeten zu folgen („Du bleibst im Haus!“), sogar wenn sie unverstaendlich sind („…auch wenn du heute kein Fieber mehr hast!“). Sie lernen aber auch, dass man Autoritaeten nach deren Wirkung beurteilen kann. Sie lernen, dass Glaube (an Autoritaeten, an Rezepte) ein schwieriges Thema ist, dass Aberglaube nahe beim wirksamen Zwiebelwickel ist. Sie lernen das durch und durch kennen, mit dem ganzen Koerper, als Lektion fuers Leben. Und sie lernen, dass Autoritaet und Verantwortung zwei Seiten einer Medaille sind. Sie lernen das Konzept Konsequenzen – wie schmerzhaft oder gut Konsequenzen sein koennen.

Kinder erleben durch die Kinderkrankheiten Krankheiten als eigene Wesen, eigene Dinge mit eigenen Symptomen. Wer Wein nicht kennt, mischt ihn mit Cola, schuettet ihn rein und sagt: gut! Wer Krankheiten nicht kennt, sagt: krank! Haut drauf mit Antibiotika und geht in zwei Tagen wieder zur Arbeit. Eine sehr eindrueckliche Erinnerung ist fuer mich der Mumps, wie es spannt links und rechts unterm Kiefer, zusammen mit dem Geruch essigsaurer Tonerde. Eine Nasennebenhoehlenentzuendung fuehlt sich ganz anders an, ich behandle sie ganz anders.
Es ist die Generation der Grosseltern, die mit Penizillin aufwuchs. Heute haben wir multiresistente Keime, weil unspezifisch auf alle Symptome mit allen Mitteln draufgehauen wird.
Es ist jetzt aktuell die erste Generation von Jugendlichen, die grossteils keine Kinderkrankheiten erlitten, bei denen „Opfer“ ein Schimpfwort ist.

Kinderkrankheiten sind potentiell lebensgaefaehrlich. Das macht die Lektionen so eindringlich und wirksam. Aber ausser wirklich lebensgefaehrlichen Dingen wie Krieg, Buergerkrieg, Naturkatastrophen lehren nur die Kinderkrankheiten absolut ueberzeugend, wie wohltuend und wertvoll es sein kann, ruhig zu sein, und wie wirksam Geduld sein kann. Kinderkrankheiten demonstrieren die grundlegenden Wichtigkeiten im Leben, gerade noch ohne ganz unheimlich und unbeherrschbar zu werden.

Kinder bekommen damit also aus eigener Erfahrung eine direkte Ahnung von der Macht der Umstaende, von der Kleinheit des Menschen. Demut vielleicht, wo sie angebracht ist. Que sera, sera.

Kinder bekommen aber auch eine Ahnung von der Groesse der menschlichen Geschicklichkeit, vom menschlichen Wissen, vom menschlichen Mut. Sie erleben die Wirksamkeit der menschlichen Gemeinschaft – Fuersorge in der Familie, das Wissen des Arztes und der Buecher, den Wert der Kultur. Kleine Menschen koennen grosse, unheimliche Gefahren durchstehen und ueberwinden.
Das genaue Hinsehen, das spezifische Handeln macht den Menschen trotz seiner kleinen Kraefte gross. Kinder erwerben Stolz auf das Menschengeschlecht und auf die Eltern und auf sich.

Liebe. Meine Eltern haben mich gerettet, als ich ungeduldig war, gestunken habe. Sie haben Angst um mich gehabt, haben bei mir gewacht. Vertrauen.

Die Eltern lernen dasselbe: dass sie die Kinder lieben, dass sie faehig sind zu helfen. Und sie lernen und ueben fuer den Ernstfall, wenn ein wirklicher Schicksalsschlag jemanden aus der Familie fuer Wochen oder Monate umschlaegt. Das muss man genauso ueben und trainieren wie man das Troesten, Beruhigen fuer die kommenden Jahre zusammen mit dem Saeugling trainiert. Eltern verlieren dadurch etwas das Beduerfnis, erziehen zu muessen. Sie erzogen ja soeben durch Wirkung und Vorbild.

Kinderkrankheiten schaden im Einzelfall mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht, kitten aber den Kern menschlicher Kultur zusammen – die Familie. Sie wirken in den entscheidenden Zeiten: in den fruehkindlichen und Kleinkinderzeiten, dann wieder in der Zeit, wo Menschen als junge Eltern in die wichtigste Verantwortung hineinwachsen. Und auch bei den pubertierenden Halbwuechsigen, die an den kleinen Kindern sehen, wie man sich auch um sie gekuemmert hat, und an den Eltern, was auch auf sie an Verantwortung zukommen kann. Kinderkrankheiten sind ein ueberaus starker Motor dafuer, Wissen zu bewahren und zu uebernehmen. Kinderkrankheiten bilden starke Familienbande.

Nehmen wir Menschen-Masern-Mumps-Windpocken-.. als eine oekologische Gruppe, die zusammen ueberlebt. Wenn die Kinderkrankheiten zu aggressiv sind, sterben sie mit dem Menschen aus. Solche Krankheiten gibt es, und sie sind ganz korrekt selten. Wenn Menschengruppen mit weniger Kinderkrankheiten staerker gewesen waeren, haetten sie unsere Gruppe verdraengt. Ich denke, dass die normalen Kinderkrankheiten und die Menschen eine sinnvolle, erfolgreiche Ko-Evolution hingelegt haben.

Zumindest ist es sehr mutig von uns, ein solches System wegzuimpfen, wohl wissend, dass wir sehr wenig ueber die Folgen im grossen Massstab wissen, dass handfeste lokale, finanzielle Interessen im Gesundheitswesen beim Impfen mitentscheiden. Wir haben die volle Information darueber, dass Allergien sich ausweiten und soziales Verhalten sich aendert, wir haben das volle Unwissen, was alles die grossen aktuellen Aenderungen verursacht.

Jeder gehe in sich, ob sich der persoenliche, harte Kampf Mensch gegen Krankheit lohnt, wo er nach uralter Erfahrung gewonnen werden kann.

PS: Ach ja, PISA – was sucht das Stichwort hier? Die nuetzlichen, menschlichen Faehigkeiten, die ich oben beschrieb, die die Menschen nuetzen muessen und koennen, um zu ueberleben, werden den Kindern auch helfen, die kulturellen Anforderungen in der Schule anzugehen. PISA ist nur ein Detail.

PPS: Krankenversicherungssystem? Natuerlich: Weitergabe und Anwendung von Hausmitteln ist laestig, manchmal laecherlich. Man muss die Dispziplin und den Glauben haben, Hygiene-, Ruhe- und Anwendungsanweisungen umzusetzen. Wer verlaesst sich auf Antibiotika und beugt gar nicht mehr vor? Vielleicht der, der zu wenig Wissen und Disziplin eingeuebt hat? Der Respekt vor Krankheiten koennte ein ziemliches Sparpotential entfalten – rechtzeitiges Nasenspuelen bei beginnendem Schnupfen kann mancher Stirnhoehlenentzuendung oder Bronchitis vorbeugen.

PPPS: Und Kultur, so ganz allgemein? Kultur besteht aus Dingen, die weitergegeben werden. Etwas, was nicht weitergegeben wird, geht verloren. Noch schlimmer: wer als Haenschen das Annehmen nicht lernt, dem wird von allem weniger weitergegeben werden.

PPPPS: Und was ist jetzt also zu tun? Wers noch nicht gemerkt hat: Kinderkrankheiten, und ueberhaupt: Alles, was sinnvoll im Menschenleben ueberstanden werden kann, durchstehen, und nicht unkritisch vernichten.
Den Diskussionstopf „Schutzimpung vor den gaengigen Kinderkrankheiten“ sollten wir wieder aufmachen.

Leave a Reply

You must be logged in to post a comment.